barzotto

barzotto – italienisch für halbgar, halbweich: eine halbgare Mahlzeit zum Beispiel, ein weichgekochtes Ei. Meinem Freund Nicola aus Vicenza habe ich dieses Wort zu verdanken. Wir waren zusammen in einem Club und schauten zu, wie ein junger Italiener versuchte, mit einer unserer Bekannten anzubandeln. Nicola schüttelte lachend den Kopf und sagte dazu: barzotto. Er erklärte mir, das hieße soviel wie unbeholfen, tolpatschig. Und, da wo er herkomme, würde so auch ein Penis bezeichnet, „not when it’s hard, not when it’s soft, somewhere in between“.

Nicht hart, nicht weich, irgendwo dazwischen – eine vage Unbestimmtheit und dennoch ein Wort dafür: barzotto. Wahrhaftig merkwürdig. Denn: Penisse gibt es entweder schlaff oder steif, hängend oder stehend, blutleer oder erigiert. Zwei Zustände, besprochen und bedacht mit zahllosen Bezeichnungen und Bedeutungen. Doch dazwischen? Phase, Übergang, Schwebe? Fraglos physiologische Realität; aber keiner Rede wert.

barzotto, der halb erigierte Penis – ein Bild, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Ein anderes, ein neues Bild. Denn die Welt wird regiert von harten Schwänzen, von mächtigen Pimmeln, vom Phallus, den man sich als ewig erigiert vorzustellen hat, der für Macht, Dominanz, Potenz „steht“. Den echten Mann gibt es nur als ganzen Kerl, da gibt es keine halben Sachen. Er steht, er kann, er ist potent – der Mann ist identisch mit seinem Ständer. Männlichkeit ist Potenz. Nicht Potential. Männlichkeit ist nicht Konjunktiv (er könnte), sondern Indikativ (er kann). Der leibliche Index mag schlaff in der Hose ruhen, angezeigt werden muss die Potenz nichtsdestoweniger (oder: umso mehr). Männlichkeit muss „ausgestellt“, ausagiert, ausgesprochen werden. Sie wird repräsentiert: mit übermotorisierten Autos, mit teuren Luxusgegenständen, mit großkalibrigen Waffen. Sie wird ausgeübt: in hierarchischen Machtstrukturen, als physische Gewalt, in endlosem Kräftemessen. Sie wird „artikuliert“: als lautstarkes Geprahle, als Herabsetzung anderer, als selbstverständliche Diskurshoheit.

Potenz versteht sich als absolut; und doch wird sie, im repräsentativen Vergleich mit anderen, relativ. Ein schnelleres Auto, ein höherer Wolkenkratzer, ein größeres Atomwaffenarsenal… Potenz kippt um in Impotenz. Aus dem Vergleich wird Wettbewerb; das Verhältnis ist Konkurrenz, das Ziel Dominanz. Das Patriarchat – eine Hierarchie aus Dominanzverhältnissen, in der es noch für jeden Phallus etwas zu dominieren gibt: andere Ethnien, andere Geschlechter, andere Körper, Tiere, Natur, Umwelt. Macht ist nach wie vor Männersache – in Politik, Wirtschaft, Militär, Institutionen aller Art. Die Herrschaft des Phallus: hart, unbeugsam, rücksichtslos. Das Patriarchat: eine schmerzhafte Dauererektion.

Schmerzhaft für alle, die beherrscht, unterdrückt, benachteiligt werden. Schmerzhaft auch für jene, die mit einem solchen Ständer herumlaufen müssen. Die zwanghaft versuchen, eine Männlichkeit aufrechtzuerhalten, die daraus besteht, alles andere (vor allem alles weibliche) zu unterdrücken. Auch und gerade in sich selbst. Das muss sich ändern. Männlichkeit braucht ein neues Bild, für die Männer von sich selbst, für die Verhältnisse und Beziehungen zu anderen. Ein neues Bild wäre: barzotto. Der irgendwie halb-erigierte Penis statt des großen, harten Phallus. 

Alles, was unsere Realität ausmacht, ist ineinander verwoben: Körper, Psyche, Sprache, Symbol; Individuum, Partner, Familie, Gesellschaft; Privat, Öffentlichkeit, Erziehung, Beruf; Medien, Wissenschaft, Kultur, Sport, Wirtschaft, Politik. Was Männlichkeit ist, wie und wo sie sich zeigt, betrifft immer mehrere dieser Ebenen gleichzeitig, durchdringt sie als Bild, als Seins-, Denk-, Sprech-, Handlungsweise. Assoziationen, Attribute, Metaphern, ob für den Phallus oder barzotto, sind deshalb nicht einfach Sprachspiele, sondern verweisen auf Spannungsfelder von Männlichkeit, effektiv in allen Dimensionen der Wirklichkeit. Sätze barzotto betreffend sind dabei nicht als Festschreibungen zu verstehen; es sind Versuche, Annäherungen, Öffnungen.

barzotto ist zuallererst, was es nicht ist: weder schlaff noch hart, weder impotent noch potent, weder Null noch Eins. barzotto ist unbestimmt, ungefähr, uneindeutig. barzotto ist nicht. barzotto wird.

Der Phallus ist rigide, definitiv, absolut, superlativ. 
barzotto wäre flexibel, elastisch, relativ, relational. 

Der Phallus beharrt auf seinem Standpunkt, seiner Richtigkeit, seiner Herrschaft, seiner Sprache. 
barzotto wäre wandlungsfähig, offen, kommunikativ, (ver)handelbar.

Der Phallus dominiert, konkurriert, penetriert.
barzotto wäre egalitär, spielerisch, passiv-aktiv.

Der Phallus produziert sich, stellt sich aus, ist geil, ist Porno.
barzotto ließe sich ein, wäre erwartungsvoll, sehnte sich, wäre Eros.

Der Phallus ist stolz, eitel, ernst, humorlos, heilig, erhaben, eigensinnig, schweigsam, einsam.
barzotto wäre demütig, bescheiden, fröhlich, komisch, profan, gelassen, dankbar, sprechend, gesellig.

Eine Männlichkeit, die sich an barzotto orientierte, wäre nicht fixiert, definitiv, fest. Sie ließe sich darauf ein, weich, unförmig, porös zu sein: Fließen, Mischung, Teilhabe. Vor allem ließe sie Raum für sich selbst, verstünde sich als Potential, das sich im Miteinander (der Körper, der Ideen) entfalten würde, immer wieder neu, immer wieder anders.

Sie wäre, wie dieser Text, eine Einladung.